I
An einem warmen Junisonntag kehrte ich noch einmal zurück an den Ort meiner Kindheit. Tage des Herrn sind das, sagte mein Vater immer, wenn der schwache Wind angenehm die Haut streichelt und der Himmel nahezu wolkenlos bleibt. Wir waren gut katholisch, wie die meisten hier; zwar nicht sonderlich eifrig, aber es gehörte doch irgendwie dazu, wenn man im täglichen Leben unseres Dorfes eine Rolle spielen wollte. Mein Vater hatte eine dieser typischen Statistenrollen: stets eingebunden zwischen Karnevalsverein, freiwilliger Feuerwehr und Sportclub – den drei Gewalten eines jeden Dorfes. Nicht als Vorsitzender oder in der ersten Reihe, jedoch immer mit von der Partie.
Sonntagsmorgens traf man sich zum Frühschoppen bei Brosarius, während die Älteren schon wieder vom Kirchgang heimwärts trabten. Niemand meckerte mehr darüber, dass die Genration meiner Eltern schon nicht mehr regelmäßig die Messe besuchte. Die alten Leutchen winkten von draußen in die Gaststätte hinein, wo mein Vater mit den anderen Skat spielte. Oft, wenn die nirgendwo festgelegte Karenzzeit zwischen siebtem Pils und dauerhaft schlechter Laune meiner Mutter langsam überschritten schien, schickte sie mich als Kind dorthin, um vorsichtig anzumahnen, das Mittagessen könnte kalt werden.
Die Kirche St. Mariä unbefleckte Empfängnis, die immerhin auf eine über tausendjährige Geschichte zurückblickte, war als eines der ersten öffentlichen Gebäude mittlerweile abgerissen worden. Das Westrevier des rheinischen Braunkohletagebaus hatte sich nun endlich bis zu unserem Dorf durchgefressen. Es war lange bekannt und vor fünf Jahren lebten nur noch etwa 50 Menschen im Dorf, das langsam von der Landkarte verschwand und heute nicht mehr existiert. Die meisten waren schon fortgegangen, noch bevor die Rheinbraun mit ihren ersten Baggern und Containern anrückte. So wie meine Eltern, die glücklicherweise nicht in das nur vier Kilometer entfernte, neu aus dem Boden gestampfte Trabentendorf zogen, sondern ganz weg aus der Region, weil mein Vater sich dort beruflich verändern konnte. Alle hatten sich mit dem Schicksal abgefunden, das von unserem Dorf nichts übrig bleiben würde außer ein paar Bildern und Erinnerungen. Die Übermacht des Gemeinwohls und seines langen, starken Arms in Gestalt des heutigen Energiekonzerns RWE-Power war zu groß, als dass es sich auch nur in Ansätzen gelohnt hätte, dagegen anzukämpfen. Keine Chance. Schließlich erhielten die Menschen Geldzahlungen als Abfindung für ihr Hab und Gut, nicht aber für einen real-existierenden, greifbaren Teil ihrer Lebensgeschichte, dessen sie beraubt wurden.
Die Menschen in meiner Heimat neigen zu einem gewissen Fatalismus, der oft gepaart ist mit einer unglaublich gefühlsduseligen Sentimentalität. Ich weiß nicht wieso, aber es ist so.
Die Tränen des Fußballtrainers Jupp Heynckes nach seinem letzten Bundesligaspiel als Bayerncoach in Mönchengladbach sind so ein Beispiel dafür. Da kommt ein kühler Stratege, der die Welt gesehen und alles gewonnen hat, was man im Sport gewinnen kann, zurück in seine triste graue Heimatstadt, sitzt in einer Pressekonferenz und weint öffentlich. Für mich war das ein Moment stellvertretend für die Mentalität der Menschen im Rheinland, denen Karneval das Wichtigste und Erfolg das Heiligste zu sein scheint; die ständig schwanken zwischen einer heiter-optimistischen Gelassenheit und überbordender Hysterie. Das ganz große Gefühlskino. Wahrscheinlich liegt es auch daran, weil es hier kein Alpenglühen, keine Postkartenmotive und keine Seemannsromantik gibt, keine Attraktionen, die für Urlauber sehenswert wären, für die andere sich interessieren könnten. Deshalb interessiert man sich vornehmlich für sich selbst. Im Gebiet des rheinischen Braunkohlereviers existiert nichts mehr außer einer geschundenen, ausgebeuteten Landschaft. Wer hier aufgewachsen ist, dem fehlen die Orte für immer.
Später an jenem Tag stand ich hoch über dem riesigen Krater und blickte hinaus in die Weite. Das Loch misst mehrere Hektar und erstreckt sich über eine halbe Region. An den Ufern, wo eines Tages ein Badesee in einer Art Naherholungsgebiet entstehen soll, ist die Aussicht fast atemberaubend. Oben eine irgendwie irritierende Ruhe, die nur ab und zu durch einen Spaziergänger gestört wird. Unten das stetige Rauschen der Befeuchter, das Röhren der Schaufelräder, die sich durch die Erde wühlen, auf der Suche nach Energie für einen ganzen Landstrich.
Damals, als bekannt wurde, dass unser Dorf höheren, übergeordneten Interessen würde weichen müssen, war ich noch viel zu jung, um dieses Ausmaß auch nur annähernd zu begreifen. Mit 12 hat man ganz andere Sorgen. Verlust spürt man in diesem Alter erst, wenn er schmerzhaft gegenwärtig wird. Wenn plötzlich etwas fort ist, das vorher immer da war. Unser Garten! Die Apfelbäume! Menzels komischer Zaun, der aussah wie Burgzinnen. Nun stand ich da, irgendwo an einem für mich geografisch ungeklärten Fleck, und versuchte, mich zu erinnern. Aber da war nichts an dem sich Erinnerung hätte festhalten können. Der letzte Rest von Dorf lag in Containern, die schon in den nächsten Tagen abgeholt werden würden. Noch standen ein paar wenige Ruinen, meist schon halbseitig mit der Abrissbirne traktiert und mit bereits zerschmetterten Mauern. Dahinter Berge aus Bauschutt und Mobiliar. Unter diesen Ruinen befand sich auch die Gaststätte. Ich musste lächeln, das Schild war noch vorhanden: „Gilden-Kölsch“ stand da…und „Bundeskegelbahn“. Wie oft hatte ich diese Kneipe betreten?
Die Fenster waren mit Brettern verbarrikadiert, aber alle Türen standen offen. Das Sonnenlicht bahnte sich seinen Weg durch alle Öffnungen und Ritzen dieses zerschlagenen Baukörpers. Immerhin: drei von vier Außenwänden standen noch. Ich trat ein.
Plötzlich kam sie doch wieder, die Erinnerung. Ein Sonntag vor Zeiten. War das jetzt wirklich schon über zwanzig Jahre her? Unglaublich eigentlich.
Alle trugen schwarz. Die Kleider, die Anzüge, die Krawatten. Betretenes Schweigen. Aber es weinte auch niemand mehr, als die Tabletts mit Mett- und Salamibrötchen aufgetischt und die ersten Biere gezapft wurden.
Ich weiß noch, dass ich damals einfach am Grab stehenbleiben wollte. Versteinert; erstarrt in alle Ewigkeit. Nie wieder würde ich einen Schritt von dort weggehen, mich bewegen, mich rühren. Nie wieder! Jedenfalls so lange nicht, bis Lennart mich anstubst und sagt: Komm, wir gehen. Ich starrte in dieses Loch, in das die alle Blumen und Dreck geworfen hatten. Auf eine Holzkiste. Und da drin lag jetzt Lennart
Auf einmal zerrte mein Vater an mir und ich höre noch die Stimme meiner Mutter: Kind, du kannst hier nicht bleiben. Nein, Lennart war nicht mehr und er würde auch nie wieder schellen und fragen, ob die Johanna rauskommt, um Drachen steigen zu lassen. Das war erst ein paar Tage her. Da hielt er mit aller Kraft die Schnüre. Weit oben, kurz vor dem Himmel, tanzte ein bunter Punkt mit wedelndem Schwanz. Lennart hielt ihn fest und schrie und lachte. Dann sah ich ihn ein paar Tage nicht mehr. Immer wenn ich klingelte, blickte mich seine Mutter traurig an: Nein, der Lennart kann heute nicht rauskommen. Es geht nicht. Komm morgen wieder. Eine Woche oder so klingelte ich vergebens, bis mir schließlich meine Mutter sagte: Der Lennart kommt nicht mehr raus zum Spielen.
Lennarts Vater schenkte mir seinen Lieblingsteddybären, den ich auf der Beerdigung unterm Arm trug. So fühlte ich mich nicht so allein unter den Leuten vom Karnevalsverein und der freiwilligen Feuerwehr, die alle keine Freunde von Lennart waren, sondern nur einen Termin wahrnahmen, bei dem es anschließend Bier gab. Und einige von denen spielten nachher sogar Karten. Der Teddy hieß „Lübbe“. Der Vater sagte mit belegter Stimme: Er hätte bestimmt gewollt, dass du ihn bekommst.
Ja, wer denn sonst?
Wir wollten doch heiraten. Einmal hatten wir uns versprochen, dass wir immer zusammenbleiben. Nein, da war nichts Vorpubertäres. Keine Doktorspiele. Es war einfach schön, dass es jemanden gab, der immer rauskommt, wenn man an der Türe klingelte. Heute, mit dem Abstand von über zwanzig Jahren, würde ich sagen, wir ergänzten uns eben. Er war immer schlauer als ich, besser in der Schule und konnte jedes Rätsel lösen, vor allem kleine Textaufgaben. Ich passte auf, war mutiger, traute mich etwas. Einmal sagte er zu mir: Du, Johanna, ich werde wahrscheinlich irgendwann sterben. Ich wusste doch, dass er krank war, nur konnte man das nicht sehen. Deshalb habe ich wohl auch nicht weiter gefragt. Da war nichts an ihm, was anders war als bei anderen. Man merkte nichts. Sah nichts. Ich konnte mir nicht einmal den Namen der Krankheit merken. Das war ja auch nicht wichtig, denn es ging ihm ja gut. Kurz zuvor war meine Oma gestorben. Ja dann, dachte ich…dann kann das ja noch etwas dauern mit dem Sterben und ich begann zu rechnen, wie lange es wohl dauerte, bis Lennart so alt wäre wie meine Oma, als sie starb.
Eine Weile stand ich da, oben am Rand des Tagebaus, fühlte nichts außer dem Vorsommer. Während ich den Baggern da unten zuschaute, wie sie förderten und förderten und die Flöze abgruben, wurde mir bewusst, was ich immer tief in mir gefühlt hatte: Ich habe Lennart geliebt. Auf meine Weise. Auch wenn alle so taten, als wüssten sie, was es mit der Liebe auf sich hat. Sie hatten doch nichts verstanden. Ich hatte ihm mein Herz gegeben. Später hörte ich diese Metapher immer wieder. Vor allem in dämlichen Schlagern. Häufig würde über verschenkte Herzen an Karneval gesungen. Überhaupt geht man mit dieser Schenkung ziemlich liederlich um in meiner Heimat. Man kann das nicht mehr ernst nehmen. Umso schlimmer ist es, wenn man tatsächlich leibhaftig spürt, wie etwas fehlt, weil es herausgerissen wurde.
Aber Leute, denen man die Friedhöfe verlegt, deren Sportplätze und Kirchen verschwinden, die man entwurzelt und vier Kilometer entfernt mit allem neu einpflanzt: Da! Das ist ab jetzt dein Zuhause! Die können nicht anders. Die müssen den Schmerz über den Verlust betäuben, in dem sie sich die Gegenwart einfach wegsingen und mit Leutseligkeit übertönen. Lennart wurde umgebettet, gar nicht mal weit weg. Er hatte hier keine Ruhestätte mehr. Doch ich betrete diesen Ort nicht, der da als Gegenleistung geschaffen wurde und den alten Namen mit dem Zusatz „Neu“ behielt. Ich weiß nicht warum, aber ich gehe dort nicht hin. Ich muss das auch niemandem erklären. Ich habe meine Gründe, obwohl ich die selbst gar nicht kenne. Das geht in Ordnung so. Für mich.
Eines dieser idiotischen Lieder, die man selbst mit einem Affen-IQ schon ab der zweiten Strophe mitsingen kann, geisterte mir plötzlich, regelrecht überfallartig durch den Kopf. Na klar, es ging wieder mal ums Herzverschenken. Hatte ich da nicht gerade eben noch dran gedacht? Wahrscheinlich kann man ein Herz nur einmal verschenken. Man muss es ja rausreißen. Oder sagen wir: in irgend einer Weise amputieren, um es jemand anders zu übergeben. Beim Herz handelt es sich um ein Organ, das nicht nur in biologischer Hinsicht überlebenswichtig ist. Menschen ohne Herzen können zwar physisch vorhanden sein und auch handeln, aber es sind Untote, die ganz klassischen Zombies. Und wer meint, ein Herz könne mehrfach verschenkt werden, am besten beliebig oft, ist ein schizophrener Zombie. Von dieser Spezies habe ich eine Menge kennenlernen dürfen im Laufe der Jahre. Daher war ich mir sicher, dass man nur einmal wirklich lieben kann. Und Lennart habe ich aufrichtig geliebt.
Später, mit den anderen Jungs und auch mit den Männern, den flüchtigen Begegnungen, den Erfahrungen und Versuchungen, hat das dann auch nicht mehr so gut geklappt…diese Sache mit dem „Lieben“.
Wie so oft, wenn man mit sich allein sein will, stört jemand. Meistens über ein Medium, das man ständig mit sich trägt. Selbst bei vorübergehendem Verlust des Handys spürt man ja eine Art Phantomschmerz, wie Dieter Nuhr das nennt. Das Ding ist wie ein Körperteil ohne fleischliche Verbindung. In diesem Fall war es Klingelton „Marimba“ mit Wrumm-Wrumm-Vibrationsalarm. Das Display informierte mich: Papa ruft an…
Scheißding! Nein, nicht jetzt. Hätte ich mal besser nicht aufgeklappt. Unterdessen hatten nämlich noch zwei weitere Leute versucht, mich anzurufen. Außerdem Neuigkeiten: Sie haben 6 neue Nachrichten. Darunter Ina, meine Freundin: Was ist denn nun mit heute abend? Melde dich mal. Die ganzen Apps waren bei weitem nicht so still, wie dieser Ort es verlangte. Das Leben da draußen ging offensichtlich weiter. Die Welt drehte sich unaufhörlich und ich wurde im Minutentakt darüber informiert, sollte reagieren, antworten, merken, zur Stelle und Teil dieser immer turbulenteren Welt sein. Ständig will jemand irgendwas. Und dabei hatte ich die Email-Accounts aktuell noch gar nicht eingerechnet, die täglich zwischen den wenigen nützlichen Mitteilungen nur mit allerlei Belanglosigkeiten geflutet wurden. Aber so ganz ohne fett gedruckte ungelesene Neuigkeiten fühlte man sich auch wieder ein wenig einsam oder zumindest unbeachtet. Was für ein Kreuz, diese digitale Präsenz.
Papa rief also an… Aha! Man hätte es unter Zufall verbuchen können. Spirituell angehauchte Menschen messen solchen vermeintlichen Zufällen gar eine Bedeutung bei, wenn man niemandem erzählt hat, dass man das Heimatdorf, in dem man aufgewachsen ist, mit einem spontanen Besuch beehrt und ausgerechnet dann Papa anruft. Bei Licht betrachtet ist es eigentlich nicht mehr als eine zwangsläufige Banalität im Alltag. Abgesehen davon konnte ich mir schon denken, worum es ging.
Wie damals, als ich erst in die Wallonie und später nach Paris gefahren bin, hielt ich den kleinen Schalter ziemlich lange gedrückt. Ausschalten. Nur noch ein Fingerstrich und man ist offline. Ganz mit sich. Für ein paar Stunden unerreichbar. Oder…solange man will. Endlich Ruhe, bis man sich wieder bereit fühlt, auf die nächsten fahrenden Züge zu springen.
Aber bis dahin sollte von nun an noch einige Zeit vergehen.
II
Gare de Montzen – ewig bin ich nicht hier gewesen. Vor vier Jahren war ich das letzte Mal in der Wallonie, aber diesen alten Rangierbahnhof, der von Deutschen während des Ersten Weltkriegs erbaut wurde, um auf der Strecke Aachen-Tongeren Güternachschub sicherzustellen, hatte ich aus unerfindlichen Gründen ausgelassen. Für viele Einheimische war es immer ein Geschwür im Ortskern. Doch diejenigen, die noch Erinnerung an die Besatzungszeit haben, werden weniger. Eigentlich ist diese Generation schon ausgestorben. Die Zeit des Nachtragens ist vorbei, einer Zeit des Verzeihens, später des Vergessens und heute des Fast-schon-nicht-mehr-Wissens gewichen. Für mich persönlich war die Wallonie immer so eine Art Schwesterregion, der ich mich aus unerfindlichen Gründen verbunden fühlte, auch wenn ich nie dort gewohnt oder irgendwelche Bindungen dorthin gehabt habe, außer vielleicht der einen, dass dieses Grenzland das etwas Fremde so nah erscheinen und mich spüren ließ, dass Heimat auch immer etwas Fremdes in sich trägt, das einem gleichwohl seltsam vertraut ist. Außerdem falle ich überhaupt nicht auf, wenn ich durch die Straßen Lüttichs oder Montzens gehe. Ich war schon immer eine von denen, auch wenn ich deren Sprache nicht wirklich beherrsche.
Dieser Bahnhof, ganz nah an der Grenze zu Aachen, ist so ein Ort, in dem man sich zeitversetzt fühlt. Er erinnert mich daran, dass Veränderung auch immer mit Verlust zu tun hat, dass man selbst Ungeliebtes vermissen kann, wenn es Stück für Stück, fast unmerklich verschwindet, bis es auf einmal nicht mehr da ist. Das ist wie mit dem alten Sprichwort von der untergehenden Sonne, die man langsam sinken sieht und dann doch erschrickt, wenn es dunkel wird. Liest man oft in Todesanzeigen in der Zeitung.
Der alte Bahnhof in Montzen ist so ein Sinnbild für Vergänglichkeit und Veränderung. Früher standen hier noch ein Güterzug mit zwei Dutzend Holzwaggons, ein Triebwagen und viele andere Gegenstände rum, die längst vergangenen Zeiten ein Gesicht gaben. Diese riesige leere Halle heute erscheint mir amorph, eben ohne Gestalt, ein weites helles Nichts, in dem sich die Erinnerung verklären kann. So wie man an den Rändern des Tagebaus steht und glaubt, in der Stille die Glocken von St. Mariä läuten zu hören.
Nichts bleibt. Das ist eine schwierige Erkenntnis. Alles bewegt sich, nimmt neue Formen an. Es macht keinen Sinn, sich dagegen zu stemmen, denn Veränderung ist so mächtig wie einst die Rheinbraun, die in der Lage ist, ganze Dörfer verschwinden zu lassen. Also bleibt als einzige Chance, sich ebenfalls ständig zu verändern. Das geht aber nur, wenn man wenigstens die spärlichen Möglichkeiten zur Reflexion nutzen kann und nicht immerwährend abgelenkt wird.
Eine Bahnfahrt zweiter Klasse ist manchmal hilfreich, die Welt mit ihrem Drumherum ganz neu zu empfinden. Man blickt aus dem Fenster. Alles fliegt vorbei. Mit jedem Wimpernschlag, glaubt man, eine neue Landschaft zu entdecken. Es ist wie mit dem Handy. Immer was Neues. Aber je nach dem in welche Richtung man fährt, sieht plötzlich alles wie Nebraska aus. Da wollte ich immer schon mal hin. In diese unendlichen Weiten der nordamerikanischen Prärie, wo man stets 360 Grad Horizont um sich hat, wie auf dem offenen Meer. Wenn man dort die Augen für einen Moment schließt und wieder öffnet, sieht die Welt danach immer noch so aus wie vorher. Das beruhigt. Die Abstände zwischen Augen schließen und wieder öffnen werden größer. Manchmal über Stunden hinweg.
Allein im Abteil mit dem Song von Dylan auf den Ohren und Welt ist wie im Tiefschlaf. Komisch, dass mich dieses fast 50 Jahre alte Lied schon so lange begleitet. Dylan – der Halbgott meines Englischlehrers mit der Stimme eines Muezzins, der sich die Zähne putzt. Damals eine willkommene Abwechslung zu Shakespeare und John Milton im Leistungskurs. Wir dachten alle: Gut, machen wir was Modernes, das ist sicher leichter zugänglicher als diese Jahrhunderte alten Sprachfeuerwerke. Aber…weit gefehlt!
Jede Zeile musste man sich erarbeiten, neu erklären, umdeuten. Was für ein Hirnwurm! Und es konnte dann alles oder eben nichts bedeuten. Man hatte die Wahl zwischen der ganz großen Hollywood-Inszenierung oder eben einem Fliegenschiss. Wie im richtigen Leben: es kommt halt immer drauf an. Und ich fragte mich damals, wie muss man drauf sein, um sich so etwas aus dem Schädel zu quetschen. Ist das charakterliche Veranlagung? Ist der Mann nicht ganz bei Trost? Oder hat der was geraucht?
Und immer wieder diese schneidende Stimme, die wie ein Mahlwerk funktionierte und jedes einzelne Wort im Kopf verteilte bis man plötzlich nur noch Worte fühlte und das Verstehen überflüssig wurde, weil sich alles von selbst erklärte – und zwar schlüssig.
Dabei blieb die Frage: Was habe ich eigentlich mit diesen 8 Minuten in G-Dur zu tun? Außer dass ich so heiße wie die Titelfigur dieses Liedes vielleicht nicht viel. Oder doch ?
Immerhin musste ich mal eine Klausur darüber schreiben. Und was bleib mir übrig, als mir die dieses Lied gefühlte hundertmal vorher reinzuziehen. Schließlich wollte ich die Klausur ja nicht vergeigen und meinen Abi-Schnitt unnötig drücken. Ich war immer gut in Englisch, aber an dieser Nummer biss ich mir die Zähne aus. Ich kam nicht dahinter, was das alles sollte mit Louise und den anderen, die da der Reihe nach auftauchten und komische Sachen machten wie Knie suchen und Taschenlampen an und ausknipsen. Bis heute weiß ich nicht, ob Johanna wirklich existiert oder nicht. Eine Zeit lang glaubte ich, ich selbst bin diese Johanna und vielleicht ist das ja auch wahr. Jedenfalls brannte sich dieser Text derart in mein Hirn ein, dass er bis heute wie eine Vernarbung wirkt. Wenn ich davon überzeugt bin, dass eigentlich nichts bleibt, so lehrt mich diese Erfahrung, für diese eine Englischklausur gelernt zu haben, das genaue Gegenteil. Es gibt tatsächlich Dinge, die bleiben. Nur…man kann sie nicht anfassen diese Dinge. Es sind Ideen!
Vielleicht faszinierte mich damals schon ein wenig, dass die Titelheldin und ich den gleichen Namen haben. Mein Englischlehrer hatte keine Tochter soweit ich weiß. Aber wenn doch hätte er sie bestimmt Johanna genannt. Eltern machen ja solchen Unfug und nennen ihre Kinder nach irgendwelchen Schauspielern, Sängern oder Phantasiefiguren. So kommt es dann, dass einige Kinder schon richtig in die Kloschüssel gegriffen haben, noch bevor sie das Licht der Welt erblicken, weil ihre Eltern zu viel ins Kino gegangen waren oder sonstige Affinitäten zu Stars und Sternchen entwickelten. Nur deshalb heißen einige Menschen Kevin oder Kylie. Besonders in meiner Generation sind zahlreiche Ausrutscher ins Milieu der Adeligen zu verzeichnen, womöglich noch mit einem Nachnamen mit so herrlich regionaler Färbung wie: Haverkamp oder Schmitz. Willkommene Einladungen für lebenslangen Spott. Was immer Männer und Frauen dazu bewegt, ihrem Nachwuchs diesen oder jenen Namen zu geben, es scheint ihnen selten bewusst zu sein, welche Last sie damit aufbürden.
Ich für meinen Teil habe einfach Glück gehabt. Ich glaube, irgendwas mit Jeanne d’Arc hat meine Eltern geleitet. Letzten Endes bleibt es ungeklärt, weil weder mein Vater noch meine Mutter eine wirklich ganz plausible Erklärung für die Auswahl meines Namens hatten. Niemand in der Familie heißt so. Aber es ist ja nicht das Schlechteste nach einer Freiheitskämpferin benannt zu werden, wenn es denn je eine Rolle spielte. Außerdem meinte mein Englischlehrer, dass sowieso nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Johanna in Dylans Song in der Jungfrau von Orleans ihr reales Vorbild hat und damit eine Verbindung zwischen diesen beiden Johannas besteht. Vieles spricht dafür. Das Heroische zum Beispiel und auch die Unberührtheit, wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass Johanna eine Spaßbremse war, weder die eine noch die andere.
Nun gut, wenn ich genauer drüber nachdenke, ist es besser, das Dasein auf diesem Planeten auf Grund des Hirngespinstes eines amerikanischen Poeten zu fristen als am Ende zu brennen. Da lief mal ein Film mit Milla Jovovich, der mich irgendwie so betroffen machte, dass ich tagelang nicht mehr vernünftig schlafen konnte und ständig neue Leute in meinen Träumen traf, die überhaupt nichts mit diesem Film zu tun hatten. Merkwürdigerweise hält das bis heute an. Nicht dass ich unter Schlafstörungen litte, nein, es nur so, dass mir in größeren Zeitabständen immer wieder ungeordnet die gleichen Leute in wechselnden Konstellation und Situationen begegnen. Das geht aber nicht nur mir so, habe ich mir sagen lassen. Eine beruhigende Feststellung.
Vor allem Louise ist meistens dabei. Manchmal denke ich, wir alle, die wir uns in meinen Träumen begegnen, sind wie eine große Familie. Auf eine wundersame Weise gehören wir ja doch alle zusammen und ich gehöre dazu. Im Traum spiele ich natürlich meistens die Titelrolle, was aber nichts bedeutet. Denn auch eine Hauptdarstellerin ist ja immer nur Teil eines Ganzen. Das Leben passiert ja nicht wegen eines einzelnen, sondern bleibt eine Art Gemengelage aus vielen Menschen und deren multiplizierten Ideen. Wer keine Ideen hat, kommt in meinen Träumen nicht vor. So einfach ist das. Und das ist auch gut so. Ebenso wie es gut für mich ist, das Leben als gefährliche Mischung aus Wünschen und Machbarem zu begreifen. Es fühlt sich gut an.
Dass am Ende immer auch die Möglichkeit eines Scheiterns besteht, macht die ganze Sache ja erst interessant. Was gänzlich ohne Risiko funktioniert, ist einzig die Langeweile. Die spannende Aufgabe besteht doch darin, Risiken zu minimieren. Das geht nur, wenn man sich die Freiheit nimmt, erstmal alles in Frage zu stellen. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, wenn ich mal hinterfrage, ob die Sonne tatsächlich im Osten aufgeht oder ob ein Tag wirklich 24 Stunden hat. Wenn ich fix im Kopf bin, werde ich schnell feststellen, dass bestimmte Dinge leicht zu begreifen sind - so man sie denn begreifen und nicht einfach nur glauben will!
Ganz anders ist das wiederum mit Sätzen und Worten, die Menschen erfinden, damit wieder andere sie nachplappern oder einfach nur deren Inhalt glauben sollen.
Viele sagten mir: Du musst deinen Weg finden!
Manche meinten: Wenn du deinen Weg gefunden hast, darfst du ihn niemals verlassen.
Manchmal wenn ich Rat brauchte, aber mir niemand einen Rat geben konnte, hatte man doch immer eine Weisheit auf Lager, die in etwa lautete: Du musst deinen Weg gehen!
Leute kennen sich offenbar aus mit Wegen. Sie sagen dann so Sachen wie: Der Weg ist das Ziel! Oder: Lass dich nie vom Weg abbringen! Ich hörte zu und dachte mir: Wer nie vom Weg abkommt, bleibt auf der Strecke.
Mir fiel auf, dass man durch stetiges Überprüfen zu neuen Erkenntnissen gelangt. Man sollte nicht immer erstmal alles glauben, was die Leute so erzählen. Besonders wenn man Weisheiten misstraut, entlarven sie sich schnell als Allerweltsweisheiten oder Verlegenheitskonstrukte oder, noch schlimmer: als Entschuldigung für Denkfaulheit.
Das ging schon los damals mit meiner Kommunion. Ich verstand nicht, welchen Sinn es macht, eine Backoblate zu essen und dabei zu denken, ich sei ein Kannibale. Die Vorstellung, einen Menschen in Form einer Backoblate zu verspeisen, fand ich eigentlich widerlich. Aber der liebe Gott wollte es so und es gab tolle Geschenke. Alle waren nett zu mir. Daher verschob ich das Nachdenken um einige Jahre. Die Frage, wie man zu dem steht, was man glauben soll, verliert man ja nicht einfach mir nichts dir nichts aus den Augen, sondern sie stellt sich nahezu täglich aufs Neue. Das macht das Leben nicht immer leichter. Aber wenn man sich die Mühe macht und schon mal hin und wieder etwas durchdenkt, wird man zwar von seiner Umwelt als kauzig, melancholisch oder schlecht gelaunt wahrgenommen; im Endeffekt aber geht man mit vielen Dingen einfach leichter um. Und dann wiederum wird man um diese Leichtigkeit beneidet, auch wenn sich fürsorgliche Mitmenschen vorher Sorgen um den Gemütszustand machten. Das ist gut gemeint – zeigt aber nur eine gewisse Verunsicherung. Warum machst du dir bloß so viele Gedanken?
Es ist nicht gut, wenn man sich immer über Alles Gedanken macht. Das ist auch so eine Weisheit, die man oft zu hören bekommt. Quatsch, sage sich. Man muss sich nur die richtigen Gedanken im richtigen Maß machen – und was das richtige Maß ist, entscheide ich, so wie es mir gut tut. Das ist etwas, das ich von Louise gelernt habe und dem Erzähler aus diesem Dylan-Song. Ich will nicht, dass es mir am Ende so geht wie denen. Da bin ich doch lieber die Johanna, die keiner so recht (be)greifen kann. Und wenn der Erzähler am Ende des Liedes zu der Erkenntnis kommt: „and these Visions of Johanna are now all that remain“, dann überkommt mich jedes Mal ein warmer Schauer. Das ist gut. Es bleibt also doch etwas.