Die neue Chefin

 

Wir haben eine neue Chefin, die Frau Dr. Richardson. Wenn man sie so ansieht, erinnert nichts mehr an die Zeit, als sie noch Blondi war, die Hündin eines Herrchens, dessen Name Adolf Hitler war.

Manchmal, wenn ein Vorgang besprochen wird, spitzt sie die Ohren. Wenn man genau hinsieht, kann man die unnatürliche Bewegung des Knorpels beobachten. Und legt sie während einer Besprechung die Hände wie schützend auf die vor ihr liegenden Aktentürme zum Zeichen, dass weitere Beiträge nicht mehr erwünscht sind, sieht es aus, als mache sie Männchen.

Niemand außer mir fällt das auf. Die anderen Kollegen nehmen Frau Dr. Richardson kaum wahr. Sie ist sehr selten Thema an den Stehtischen in den Kaffeepausen, wo meist das Fernsehprogramm des Vorabends nacherzählt wird. Neulich traf ich sie zufällig in einer Nebenstraße der Fußgängerzone. Sie stand vor dem Fenster eines Sex-Shops und betrachtete mit hängenden Schultern, die Hände fast auf Höhe der Knie gefaltet, die Auslagen. Von weitem sah es aus, als ob sie Buße täte.

 

„Sie haben weltgeschichtlich keinen guten Ruf“, sagte ich im Vorbeigehen.

Frau Dr. Richardson zuckte kurz mit den Achseln und atmete aus: „Ja, ich weiß.“

Grundsätzlich ist sie anerkannt im Kreise der Mitarbeiter bis hin zur Vorstandsetage,  aber nur mir ist vollkommen klar, dass Frau Dr. Richardson angesichts ihres früheren Lebens in einer sehr schwierigen Lage ist, und dass sie deshalb, auch wegen ihrer nachweislichen Unschuld an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weit mehr  Rücksichtnahme verdient hätte als jene, die heutzutage unter dem Deckmantel des „Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen“, hässliche Parolen entwerfen. Vielen fehlt es nicht an Raffinesse, selbst den besten Freund kaltzustellen, ohne dass dieser es bemerkt, geschweige denn, dass er den Verursacher ausfindig machen könnte. Die meisten kommen mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht gut zurecht, weshalb sie sich in ständiger Sorge um die Volksgemeinschaft befinden und ihr Zorn trifft alle, die ihre Wertvorstellungen von Ehe und Familie nicht teilen. 

Die Zeiten haben sich geändert und trotz aller Widerwärtigkeiten besteht Raum für eine individuelle Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit.

Nur diesem Umstand ist es zu verdanken, dass Frau Dr. Richardson sich unbeschwert und mit bohemer Leichtigkeit wieder den pawlowschen Studien in Form eines Selbstversuchs widmen konnte.