Die Nachbarin
Schon seit einiger Zeit fühlte sich Bettina von ihrer Nachbarin beobachtet.
Die Frau nebenan schien über all ihre Besorgungen, Vorlieben, Aktivitäten informiert zu sein. Mehr noch: Bettina vermutete, die Nachbarin spionierte ihr nach. Wenn sie aus dem Haus ging, kam es oft vor, dass sie die gleiche Kleidung trug, die Bettina am Vortag angezogen hatte: Kleid, Mantel, Schuhe – gleiche Farbe, gleiche Marke. Neulich empfing die Nachbarin am frühen Nachmittag einen recht attraktiven Mann, der über Nacht blieb. Dieser Mann war verheiratet und die beiden hatten wohl eine heimliche Affäre.
Bettina staunte. Schließlich ereignete sich dieses Rendezvous, nachdem sich Leon, ihr langjähriger Liebhaber, einen Tag zuvor von seiner Familie hatte frei machen können und sie nach längerer Zeit wieder einmal – ebenfalls über Nacht – mit einem Besuch beglückte. Vor Freude darüber war ihr entgangen, dass die Nachbarin mit ihrem Ohr an der Wand lag und ebenfalls dem Flehen und den Fickgeräuschen lauschte. Sicher hatte sie sich alle Einzelheiten gemerkt und erzählte es nun überall herum. Einerseits, um sich wichtig zu machen; vor allem aber, um vor anderen untadelig dazustehen, indem sie mit schmutzigen Details aus Bettinas intimen Begegnungen von ihrem eigenen liederlichen Lebenswandel ablenkte. Eine seit jeher beliebte Methode gesellschaftlicher Exkulpation.
Wollte Bettina nun die Nachbarin deswegen zur Rede stellen?
Sie würde doch nur Antworten erhalten, wie sie jemand gibt, der so tut, als wisse er von nichts, aber trotzdem bestens informiert ist. Daher ließ sie von dem Gedanken ab. Stattdessen beauftragte sie Leon, sich an die Nachbarin heranzumachen. Dank seines unwiderstehlichen Charmes würde er alles für sie herausfinden, was wichtig war.
Wie sich herausstellte, teilten Bettina und die Nachbarin nicht nur die gleichen Neigungen, sondern erlebten diese auf Grund der geschickten Intervention mittlerweile nun mit demselben Mann. Leon war ein bestechender Liebhaber von enormer Wucht. Und über seinen Auftrag hinaus hatte er nebenbei den Namen des Mannes in Erfahrung gebracht, der kürzlich die stürmische Nacht nebenan verbracht hatte. Als Bettina den Mann aufspürte, ihn nach Feierabend vor seinem Büro abfing, um ihn mit diversen Kenntnissen ihrer Ermittlungen zu konfrontieren (die ihm übrigens sehr unangenehm waren), und ihm gleichzeitig andeutete, welche Konsequenzen daraus folgten, eröffnete sie damit einen Reigen ungeahnter delikater Möglichkeiten.
Bis auf Weiteres waren also alle als Komplizen und Mitwisser aneinander gebunden. Eines Tages begegneten sich die beiden Frauen auf dem Flur. Die Nachbarin lächelte Bettina ins Gesicht und sagte: „Ja, ich dachte mir schon, dass du mir nachsteigst. Aber ich war sehr beruhigt zu erfahren, dass du genauso eine verkommene Schlampe bist wie ich.“
Als vor kurzem dann ein Umzugswagen vor dem Haus stand und die Möbelpacker die ersten Sachen aus Nachbarwohnung schleppten, reichte Bettina noch am gleichen Abend die Kündigung beim Vermieter ein.