Seit der letzten Reise hütete sie ein Geheimnis. Spätabends, auf dem Weg ins Hotelzimmer, hatte sie am Ende des langen Flures einen fremden Mann entdeckt. Er saß auf einem Schaukelpferd.

Sein Gesicht zeigte keine Regung, als er sie erblickte. Nur die Bilder links und rechts an den Wänden schnitten Grimassen im Licht der Laternen, das von draußen durch ein winziges Fenster in den engen Raum schien, während die Silhouette des Mannes hin- und herpendelte. Auf dem Kopf trug er einen schmalkrempigen Hut,  aus der Westentasche hing die Kette einer Taschenuhr und trotz seiner wässrig-grün-grauen Augen  wirkte er, so ganz in schwarz gekleidet, mitsamt seiner Lackschuhe, wie ein Dompteur auf einem Rummelplatz, der sich aus einer fernen Zeit ins Jetzt gerettet hatte. Auf seinem Schoß lag eine Lederpeitsche, deren Griff mit Strass verziert war; darüber gefaltet, wie zum Gebet, die feingliedrigen Hände. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, das etwas Zigeunerhaftes in sich trug, obwohl seine nordische Erscheinung sonst keinesfalls auf solche Herkunft schließen lassen konnte.  Als er den Kopf leicht seitlich neigte und dabei seine Pupillen in den Augenhöhlen zu verschwinden drohten, bekam sie es mit der Angst zu tun.

 

„Hau ab!“ schrie sie, als der Mann nach ihr greifen wollte. Mit den Armen schützend um sich fuchtelnd bewegte sie sich zwei drei Schritte rückwärts und kam zum Stehen, weil sie gegen ein Hindernis prallte. Als sie sich umdrehte, stand der Mann plötzlich vor ihr. Angesichts ihrer eigenen Körpermaße kam ihr die hochgewachsene Statur des Mannes nun um ein Vielfaches größer vor, als sie es in Wirklichkeit war. Mit weit geöffneten Augen und leicht vorgeschobener Unterlippe stand der Fremde dort und rührte sich nicht.  Für einen Moment erstarrte auch sie, doch schon sehr bald, als der erste Schrecken aus ihren Eingeweiden wich, begann sie, langsam, mit vorsichtigen Schritten im Kreis um den Körper des Mannes herumzuschleichen. Dabei fixierte sie, immer seitlich nach oben blickend, die einzelnen Bestandteile des regungslosen Schädels, betrachtete die glattrasierten hohen Wangen, die löffelartigen, vom Hut halb verdeckten Ohren, den langen, leicht faltigen Hals sowie das knochige, narbenlose Kinn, an dessen Ende zum Übergang des Kiefers sich ein stecknadelgroßes Muttermal befand.  Sie fragte sich, ob die Bewegungslosigkeit vielleicht nur ein Vorwand war und ob der Fremde damit etwas im Schilde führte. Aber er schien wirklich nichts Böses zu beabsichtigen. Mit herabhängenden Schultern und Armen, die Handflächen nach vorn gedreht, stand er da und auf einmal nickte er, kaum wahrnehmbar, mit dem Kopf, nahezu synchron, in Zeitlupe schwankend, so wie der Mann auf dem Schaukelpferd, der jedoch verschwunden war, als sie sich suchend nach ihm umdrehte.

Sie fasste ihren Mut zusammen, trat ganz nah an die Gestalt heran, die keinen Geruch verströmte, so sehr sie auch Luft durch die Nase sog. Schließlich berührte sie mit einer Fingerkuppe seine Weste.

„Ganz feiner Stoff!“ sagte sie anerkennend und zog ihre Hand wieder zurück.

„Ja, feiner Stoff“, sagte der Fremde, sonst nichts. Seine Worte hatten eine ungewöhnliche Lautfärbung und erst mit einiger Verzögerung, sozusagen zeitversetzt, vermengten sich Klang und Bedeutung zu einem sinnvollen Ganzen, so dass sie verstand, was er ihr mitteilen wollte.

 

„Ich bin…“, setzte sie an, sich mit Namen vorzustellen, doch noch ehe dieser ihren Mund  verlassen und im Raum erklingen konnte, setzte der Mann wie ferngesteuert, doch gleichwohl blitzschnell, seinen Zeigefinger auf ihre Lippen.

„Ich weiß wohl, wer du bist“, sagte der Fremde nun mit fester Stimme, „wir kennen uns.“

„Ja? Woher denn?“

 

Der Mann sprach ruhig, aber klar: „Das spielt keine Rolle, denn Du bist es, die eine Rolle spielt. Und ich weiß, was Du hier willst und dass Du jemanden treffen wirst. Also folge mir!“

Das klang geheimnisvoll. Obwohl sein Gesicht erneut keinerlei Regung zeigte, nichts andeutete und sich bei ihr ein leichtes Magendrehen einstellte, gehorchte sie umgehend. Nach wenigen Schritten erreichten sie die Tür des Nachbarzimmers, die der Mann mittels einer Karte öffnete. Ein leichtes Klacken, dann trat sie ein.

 

Der Raum war leer. Im entlegenen Winkel erblickte sie im Halbdunkel zunächst nur den Schatten einer Frau und vernahm ein leises Klatschen. Als sie sich vorsichtig näherte, erkannte sie zuerst den grün-blau karierten Faltenrock, der bis zur Hälfte der Waden reichte und auch das Geräusch entschlüsselte sich: Die Frau hielt einen Zeigestock in der rechten Hand, der in rhythmischer Bewegung wieder und wieder in ihrem linken Handteller landete.

Die Erinnerung kehrte zurück. Damals in der Schule war ihr das Lernen nicht schwer gefallen. Scheinbar alles war ihr zugeflogen und stets hatte ihr Vater die Zeugnisse mit einer angemessenen Belohnung bedacht. Viele ihrer Mitschülerinnen hingegen hatten Nachhilfe in Anspruch nehmen müssen, um einigermaßen mitzukommen. Obwohl es ihr ein Leichtes war und sie stets die Erwartungen erfüllte, hatte sie sich innerhalb eines Jahres im Lateinischen derart verschlechtert, dass sie ebenfalls in den Genuss von Nachhilfestunden kam. Niemand hatte geahnt, dass volle Absicht dahinter steckte. Das war einerseits geschickt, aber auch in gewisser Weise hinterhältig gewesen. Schließlich ging ein Wunsch in Erfüllung. Immer, wenn sie mit ihrer Lehrerin ganz allein war und sie auf deren Weisung hin unregelmäßige Verben gebetsmühlenartig durchkonjugierte, erregte sie der prüfende Blick ihrer Lehrerin so sehr, dass sich ihr Schritt durchnässte. Allein der Luftzug des Atems, wenn die Lehrerin sich über sie beugte, um auf das Heft zu schauen oder eine zufällige Berührung mit dem Stoff ihres Rockes versetzte ihr Nadelstiche. Legte die Lehrerin dann sanft die Hand auf ihre Schulter, während sie mit strenger Stimme: „Das, meine Liebe, war gar nicht gut!“ sagte und gleichzeitig ein wenig zupackte, brachte sie das um den Verstand.     

 

„Das ist sehr folgsam von Dir. Ich wusste, Du würdest eines Tages zurückkommen“, sagte die Frau.

Für eine kurze Weile war die Überraschung so überwältigend, dass sie keine Worte fand, der Frau zu antworten. Betretene Stille machte sich breit, während die Frau lautlos umherging und ihren Blick auf sie senkte. Als sie mit dem Zeigestock aus einiger Entfernung endlich ihr Kinn anhob, antwortete sie schließlich doch: „Es war der Mann, der mich hierher führte.“

 

„Welcher Mann? Es ist niemand hier außer uns beiden!“

Sie sah sich um. Und tatsächlich befand sie sich mit der Frau allein im Raum. Der Mann war verschwunden.

 

„Wir wollen nun mit der Lektion beginnen“, sagte die Lehrerin.

Später, nachdem sie den Raum wieder verlassen hatte, lebte diese Episode weiter,  weil ein leichtes Ziehen auf der Haut und ein Brandfleck im Inneren ihres Fleisches ihr die Nachhilfestunden ins Gedächtnis zurückriefen. Beim Gedanken an den Stock indessen floss ihr das Wasser im Mund zusammen. Aus der Ferne hörte sie Hundegebell. Und jenes laute, derbe Wort, das der Vater einst hinter ihr her schimpfte, als er von ihr und der Lehrerin erfahren hatte, hallte über den Flur des Hotels.